Reise nach Kralupy – eine nicht erschienene Anthologie vom „Zirkel schreibender Arbeiter Buna“

Zirkel schreibender Arbeiter Buna: Reise nach Kralupy. Geschichten aus dem fahrenden Zug. Anthologie. Redaktion: Jürgen Bernt-Bärtl (Zirkelleiter). Querformat 20,5  x 21 cm, Oktn mit ill. OU, 112 S. Gesamtherstellung: Druck und Buch Merseburg (1980). Titelbild von Uwe Pfeifer, Einbandgestaltung und Typographie: Klaus Nitsch. Mit Texten von Gerel Calow, Michael du Bois, Rosita Ionescu, Reinhardt O. Hahn, Helene Kandzior, Heinz Neumann, Hertha Scharloth, Dietmar Schmalfuß, Peter Schultz, Beate Weiß und Wilhelm Wlosczyk. Mit Grafiken des Mal- und Zeichenzirkels Halle-Neustadt / Buna (Zirkelleiter Uwe Pfeiffer), und zwar von Gerd Böhme, Gerhard Stich, Barbara Seidel, Anita Dietrich, Roswitha Lautenschläger und Christel Hönig.

Eine interessante Anthologie! Es gibt eine Rahmenhandlung, eben die Reise der Gruppe von Halle aus ins tschechische Kralupy, zum Besuch eines dortigen Betriebes, der ebenso wie Buna zur chemischen Industrie gehörte. In kurzen Erzählstücken wird der Verlauf der Reise bis zur Begrüßung durch die tschechischen KollegInnen geschildert, dazwischen geschaltet sind insgesamt fünf Abschnitte mit Prosa, Gedichten und Grafik. Geordnet sind diese Abschnitte nach den Themen: Über Heiteres – Über Erinnerungen – Über Liebe – Über Arbeit – Über Welt und Probleme. Ein originelles Konzept, das es ermöglicht, formal und inhaltlich sehr Unterschiedliches zusammenzubinden, wobei auffällt, das neben Arbeitsalltag, Lebensgestaltung, Gegenwartspolitik auch die Erinnerung an NS und Krieg erstaunlich großen Raum einnimmt. Das ganze ist großzügig gestaltet und gesetzt, auf gutem Papier gedruckt, im Bleisatz, wie es aussieht. Dazu der farbig illustrierte Umschlag nach einem Werk von Uwe Pfeifer. Schön ist das geworden, und schön auch, dass die zuständigen Stellen dem Zirkel ein so aufwendiges Buch ermöglicht haben. Sogar einen DDR-offiziellen Druckvermerk gab es schon – nur ist es dann leider nicht erschienen.

Ein Exemplar gibt es im Bundesarchiv, der „Karlsruher Virtuelle Katalog“ kennt kein weiteres Exemplar, nicht einmal in der DNB Leipzig ist es nachgewiesen. Einige wenige dürften vorab den Mitarbeitern des Bandes übergeben worden sein – und das war’s. Laut Auskunft eines der Mitarbeiter – von dem auch unser Exemplar stammt – wurde das Erscheinen durch die zuständige Kreisleitung der SED verhindet, und zwar, so die Auskunft, wegen des Gedichtes „Antennen II“ von Dieter Schmalfuß. Das hat fünf Verse, und so richtig konterrevolutionär kann es uns nicht erscheinen… Wie es sich damit genau verhält, könnte sicherlich jemand erklären, der / die sich besser mit der Literaturpolitik der DDR auskennt, und es läßt sich auch annehmen, dass eine Archiv-Recherche noch Interessantes zu dem Vorgang zu Tage bringen könnte.  An dieser Stelle genügt wohl der Hinweis, dass es Zirkel dieser Art in der DDR in großer Zahl gab: Im Anschluss an die „Bitterfelder Konferenz“ von 1959 sollten sie eine wichtige Säule eines „künstlerischen Volksschaffens“ sein. Die 60erJahre gelten als erste Blüte der Bewegung, in den 70ern wurde die Ausbildung der Zirkelleiter verstärkt gefördert und die institutionelle Anbindung verstärkt. Spätestens ab der zweiten Hälfte der 70er Jahre kann man wohl auch davon ausgehen, das verstärkt kritische Stimmen in den Zirkeln Raum fanden, vielleicht in einem Wechselverhältnis von Opposition und Repression. Dies galt natürlich auch für die bildenden Künstler. Uwe Pfeifer, der Leiter des Zeichenzirkels und verantwortlich für das Titelbild, war ebenfalls davon betroffen. Er war zu der Zeit stark beeinflusst von den neusachlichen Arbeiten des Halle’schen Künstlers Karl Völker (1889 – 1962). Das Titelbild läßt ebenso an Richard Lindner denken. Die Kühle, die seine Arbeiten aus dieser Zeit vermitteln, kann wohl kaum im Sinne eines verordneten Optimismus gewesen sein. Wolfgang Hütt berichtet zudem in seiner Untersuchung „Gefördert. Überwacht. Reformdruck bildender Künstler der DDR – Das Beispiel Halle“ (2004), dass Pfeifer zu Beginn des Jahres 1981 zu einer Anzahl von KünstlerInnen gehörte, die eine geforderte kollektive Willenserklärung zugunsten der Politik von Staat und Partei verweigert haben, und so (oder spätestens dann) ins Visier von Partei und MfS geriet (vgl. Hütt S. 152 f).  Wie es sich mit all dem genau mit all dem verhält, überlassen wir gern den SpezialistInnen.

Nachtrag 1: Eine der Autorinnen des Bandes, Rosita Ionescu, hatte bereits 1976 in der „Edition Neue Texte“ des Aufbau-Verlages einen Band Geschichten veröffentlicht: „Lila, Kolorit auf Breitwand“. In einer westdeutschen Anthologie erschien 1983 noch ein Text von ihr, dann laut KVK nichts mehr. Der Beiträger, von dem wir unser Exemplar haben, hat sich nach dieser Affäre vom Schreiben abgewandt und was anderes gemacht. Er hat signalisiert, dass er mit all dem heute nichts mehr zu tun haben möchte, weswegen wir den Namen hier auch nicht nennen. Uwe Pfeifer ist nach wie vor als Künstler tätig. Er wird u.a. von der Galerie Zaglmaier in Halle / Saale vertreten.

Nachtrag 2: Eine ganz frische, umfangreiche akademische Arbeit zum Thema konnte hier (noch) nicht herangezogen werden: Anne Sokoll: Die schreibenden Arbeiter der DDR. Zur Geschichte, Ästhetik und Kulturpraxis einer »Literatur von unten«. transcript, Bielefeld 2021